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Die Geschichte ist aus dem Jahr 2016, für einen Wettbewerb geschrieben worden. Als Gewinner der Kategorie: „Große Worte für junge Leser“. Leider kurzfristig nicht mehr online. Nun erstmals, kann die Kurzgeschichte hier offiziell vorgestellt werden. Viel Spaß beim Lesen!

Das Indianergrab

Tatjana war schon immer da. Keine Erinnerung geht weiter zurück, an einen Ort, an eine Zeit, in der sie nicht einen bestimmten Platz in meinem Leben eingenommen hätte. Meine Kindheit war von diesem Mädchen geprägt, das doch lieber einem Jungen anstatt einem Mädchen gleich sein wollte. Gefühlt verbrachten wir jede freie Minute zusammen. Ich wohnte in einer Quartierswohnung, im obersten Stockwerk. Tatjana war zwei Häuser weiter Zuhause. Ihre Mutter musste viel arbeiten. Sie zog ihr Kind alleine auf. Aus diesem Grund war Tatjana oft bei uns.

Wir gingen morgens gemeinsam zur Schule, aßen gemeinsam mit meiner Familie zu Mittag und spielten den ganzen Nachmittag gemeinsam auf dem Spielplatz oder auf der großzügigen Wiese vor unseren Wohnungen. Ich war stets der Mitläufer, nie der Anführer. Obwohl sie ein Mädchen war, wirkte sie mit ihrem kurzgeschorenen Haaren, mit den Jungenkleidern und ihrer gebieterischen Art, tatsächlich wie ein Junge und glich weniger einem Mädchen.

Eines Tages kam sie wie immer zu mir, sagte was wir spielten und gab sich dabei etwas verschlossen. Etwas ging in ihr vor. Das Funkeln in ihren Augen und der starre Blick verrieten, dass sie etwas Außergewöhnliches vorhatte.

„Wir müssen uns vorbereiten“, sagte sie verschwörerisch.

„Was spielen wir denn?“, fragte ich.

„Wir spielen nicht. Wir gehen auf die Suche nach dem Indianergrab.“

Ich frage mich, warum irgendjemand überhaupt so etwas tun wollte. Mich fröstelte es und mein Magen verkrampfte sich. Ich wollte nicht nach einem Grab suchen, wollte keinen Kontakt mit einem Toten und erst recht nicht mit einem toten Indianer; mit einem Indianergrab, wollte ich überhaupt nichts zu tun haben.

Als ob sie meine Gedanken lesen konnte, sah sie mich verständnisvoll an und sagte triumphierend: „Es gibt einen Schatz. In jedem Indianergrab gibt es einen Schatz. Einen riesigen Schatz. Dann sind wir reich und können uns alles leisten, was wir wollten und niemand kann uns mehr sagen, was wir zu tun haben.“

Das hörte sich schon toll an, aber begeistert war ich trotzdem nicht. Ich konnte nur an das knochige Gerippe denken, das uns erwarten würde.

Kurz darauf waren wir dabei, unsere Rucksäcke zu füllen. Kekse, eine Taschenlampe, ein kleines Seil und zur Sicherheit eine gefüllte Wasserpistole.

Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte. Wo, in einem modernen Siedlungsbau, sucht man eigentlich nach einem Indianergrab? Ich rannte Tatjana also einfach hinterher. Ihr nach über die steinernen Bodenplatten, welche ein Haus mit dem anderen verbanden; an dem engen Weg vorbei, bis hin zu den Wäscheleinen. Wir rannten absichtlich durch die noch feuchten Tücher, nahmen den Geruch von frisch gewaschener Wäsche auf und fühlten die Kälte der nassen Tücher auf unseren Armen. Dann wusste ich, dass Vorsicht geboten war. Nach der kleinen Anhöhe, auf der sich die Wäsche befand, neigte sich die Wiese abfallend ein paar Meter nach unten. Bei zu viel Schwung landete man mit den Knien im grünen Gras. Ich hastete also Tatjana hinterher, versuchte nicht zu fallen, bis ich auf der Geraden wieder etwas Tempo zurücknehmen konnte. Hinter uns, auf der Anhöhe hing die Wäsche, links von uns, ein gutes Stück entfernt, verlief die Hauptstraße und rechts neben uns die Laufbahn. Wir erkundeten also erst mal die Wiese. Aber keine Spur von einem Indianer, ob tot oder lebendig. Die Laufbahn schlossen wir schon mal aus, da war alles mit rotem Belag überbaut, keine Chance, hier überhaupt an etwas in der Erde heran zu kommen.

Vor uns war ein Bereich, der von ein paar Bäumen gesäumt war, genug, um selbst an einem sonnigen Sommertag eine gespenstige Atmosphäre zu schaffen.

„Ich geh hier rauf und du schaust dich dort bei den alten Bäumen um.“, verkündete Tatjana. Bevor ich widersprechen konnte, war sie schon über den Hügel gerannt, der zu einer kleineren Laufbahn führte, die mit Sägemehl bedeckt war.

Ich schlurfte langsam über die sonnige Wiese. Solange ich in der Sonne lief, hatte ich noch etwas Mut. Doch umso näher ich der Linie kam, welche die helle Wiese in dunkle Schatten tauchte, desto langsamer wurden meine Schritte. Ich zwang mich über die Schattengrenze hinweg, merkte plötzlich wie die Temperatur um ein paar Grad abnahm und vernahm den modrigen Geruch der Wurzeln, der Erde und des Mooses. So musste es auch auf dem Friedhof riechen. So verfault, wie mir die freigelegten Wurzeln vor mir erschienen, fürchtete ich sogleich auch irgendwo eine knochige Hand aus dem Wirrwarr der knorrigen Wurzeln heraushängen zu sehen. Ich fürchtete mich, näher an den Baum zu gehen, prüfte jeden Zentimeter vor mir, um nicht von einer knochigen Klaue eines Indianerhäuptlings in die Tiefen seines Grabes hinuntergezogen zu werden. Ich kam langsam dem Baum näher, bewegte mich wie von selbst. Ich beobachtete mich wie in einem Film. Einem Film, der spät in der Nacht lief, den ich nicht sehen durfte, da er mir Albträume einbrachte, wie meine Eltern mir immer sagten. Ich sah, wie sich die Erde zwischen den Wurzeln auflockerte und etwas hinausbrechen wollte. Fasziniert schaute ich zu und kam dem Geschehen immer näher. Nicht mehr fähig zu handeln, mich selbst aufzuhalten oder gar umzukehren. Ich war zu nahe dran, um überhaupt noch entkommen zu können, was auch immer gleich aus der Erde brechen mochte. Wie in einem Film, dessen Handlung schon lange feststand. Wer war ich, um dem Schicksal, welches mir bestimmt war, entgegen zu wirken? Ich sah schon das Gerippe, mit üppiger Federpracht im schütteren, madenzerfressenen Haar, und den knochigen nach mir greifenden Händen, über mir gebeugt, den faulen Atem in mein Gesicht aushauchend.

„Hey, hier oben ist nichts, was ist bei dir?“

Der Ruf von Tatjana riss mich aus meinem Albtraum und brachte mich in die Realität zurück. Ich konnte ihre Schritte auf dem Hügel über mir hören, und ein Lichtstrahl drang in das Dunkel dieses verwunschenen Ortes, als Tatjana sich durch dicht bewachsenes Buschwerk drückte. Da war sie, zwar noch weit weg, aber in Sichtweite. Ich wollte ihr zurufen, sie warnen, doch mir versagte die Stimme. Ich war in Panik und blickte verstört um mich. Da war nichts. Keine Erde, die sich auflockerte, kein knochiges Gerippe, kein überdimensionierter Indianerhäuptling, der mich verschleppen wollte. Nur das kühle, modrige Wäldchen, in dem ich mich so schutzlos und ängstlich gefühlt hatte.

Als Tatjana neben mir stand, mit ihrem ungebrochenen Forscherdrang und ihrer ansteckenden Unerschrockenheit, verlor selbst ich die Furcht vor diesem grausigen Ort. Aus dem Friedhof der Indianer wurde ein Fleckchen feuchten Bodens, welches von ein paar alten Bäumen und deren Wurzelwerk durchdrungen war. Angenehm war die Kühle und der modrige Geruch zwar nicht, aber die beklemmende Herrschaft eines verwunschenen Ortes war wie weggefegt; als ich Tatjana zusah, wie sie sich über das Wurzelsystem beugte und in der feuchten Erde nach einem Hinweis suchte – nach ihrem großen Schatz. Ich beobachtete sie eine Zeit lang, dabei schien sie mich kaum zu beachten, wie ich untätig in ihrer Nähe stand. 

„Hier ist nichts.“, verkündigte meine Spielgefährtin und leitete somit den Rückzug in die Wirklichkeit ein. Kurz darauf freute ich mich, wieder unter der heißen Sonne zu spielen. Vergessen waren die dunklen Minuten im verwunschenen Wald, nahe des Indianergrabs. Jetzt zählte nur, dem Fußball hinterher zu jagen, über die vertraute grüne Wiese.

In der Nacht, sicher in meinem Bett, schien mir das Indianergrab immer näher zu sein als am Tag draußen, ein paar Meter vom Standort unseres nachmittäglichen Spiels entfernt. Mehrere Tage danach wachte ich noch schweißgebadet auf, sicher, dass eine vermoderte Hand mein Fußgelenk fest umschlossen hielt und mich nicht mehr frei geben würde; bis sie mich in die feuchte tiefe meines eigenen Grabes gezogen hätte.

Schon lange, nachdem ich nicht mehr von Indianergräbern träumte, machte ich einen großen Bogen um die Stelle, aus der meine Angst zu kommen schien. Selbst heute wüsste ich nicht, ob mich nicht ein kleiner Schauer überkommen würde, sähe ich zum schattigen Dunkel meiner damaligen Indianergrabstätte und würde mich an die lebhaften Kindertage erinnern, an denen alles möglich schien.

 


Urteil der Jury:

„Von Kindertagen, an denen alles möglich schien“, erzählt die autobiografische Kurzgeschichte „Das Indianergrab“ von Roman Scherrer. Die unmittelbare Ich-Perspektive des Jungen zieht den Leser vollständig in die kindliche Gefühls- und Gedankenwelt hinein. Dadurch verliert auch der Leser schnell den letzten Zweifel an der Existenz des Indianergrabes, das der Junge mit seiner Freundin Tatjana suchen möchte. Ich sah schon das Gerippe, mit üppiger Federpracht im schütteren, madenzerfressenem Haar, und den knochigen nach mir greifenden Händen, über mir gebeugt, den faulen Atem in mein Gesicht aushauchend, heißt es im Text. In der kindlichen Fantasie gibt es keine Grenzen. Die unmittelbare Erzählhaltung lässt die Sicht des Jungen, der Roman Scherrer damals war, authentisch und lebendig wirken. Die Leser erschrecken förmlich vor der vermoderten Hand des Indianers, die sich auf ihre eigene Haut zu legen scheint.

Roman Scherrers atmosphärisch dichte Kurzgeschichte „Das Indianergrab“  bezieht ihre Spannung vor allem durch den Zauber der Wahrnehmung, der in dieser Form nur einem Kind möglich ist. Damit ist es dem Autor ausgezeichnet gelungen, einen der wichtigsten Grundsätze zu erfüllen, die es gibt, wenn man für Kinder schreiben möchte: Sich in die eigene kindliche Gefühlswelt, in die Kindersicht, zurück zu versetzen und am eigenen Leibe zu spüren, wie es sich anfühlt, das Kind von damals zu sein. 

 

http://www.schule-des-schreibens.de/





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